Youssouf

brabaker Facetten: Youssouf



von
Morisca Zeforika de Mysobfurten

„Der Krieg gegen al Anfa? ... Die Expedition unter don Paulo?“ Youssouf blickt verlegen drein. „Das ist verdammt lang her... Meine Erinnerungen... Mein Gedächtnis spielt mir Streiche. Ich werde alt.“

„Sollte ich jetzt widersprechen?“ überlegt die Autorin, bleibt dann aber stumm: In der Regel - so die langjährige Berufserfahrung - erweist es sich nämlich als kontraproduktiv, noch vor Beginn des eigentlichen Gespräches den zu Befragenden Honig ums Maul zu schmieren: Anfängertaktik. Außerdem – der Tulamide wirkt nicht wie einer, der nach Komplimenten fischt...

Wie dem auch sei, den verzagten Ton der Selbsteinschätzung straft das äußerliche Erscheinungsbild Lügen: Sonnengegerbtes Gesicht und straffe Haut, wache Augen und gesunde Zähne... Da gibt es wahrlich nichts zu jammern. Der Mann, der in einem Korbsessel der Kneipe „Reissack“ zu Céz in Rhinnal vor der Autorin sitzt, erweckt keineswegs den Eindruck eines gebrechlichen Tattergreises oder eines vorgealterten Kriegswracks. Fast zwei Schritt groß, der breite Schultergürtel eines Ringkämpfers, die Bewegungen einer Raubkatze... Vielleicht stellt er zum Zeitvertreib dem Lioma nach?

Und wenn sie dem Tulamiden anfangs auch jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen muß, so führt die Autorin das mitnichten auf präsenile Vergesslichkeit zurück, sondern auf Zurückhaltung, resultierend aus einem in rondrianischen Kreisen nicht eben häufig anzutreffenden Hang zu nachdenklicher Bescheidenheit. Außerdem beginnt Youssouf nunmehr aufzutauen... so weit wenigstens, daß er behutsam vom Reiswein nippt. „Ihr tut es für don Paulo.“ erinnert leise die Autorin. „Ein echter brabaker Held. Die sind ziemlich rar gesät. Er hat es verdient, daß seine Taten nicht der Vergessenheit anheimfallen.“ Also, wenn der Kerl jetzt nicht weich wird...

„Ja - so oder so ähnlich lautete Eurer Schreiben, Wohlgeboren.“ Der Mann nickt nachdenklich und unterzieht jetzt die Autorin einem scharf prüfenden Blick. Meint diese Morisca de Mysobfurten – immerhin eine geborene Zeforika - es ernst oder trägt sie sich mit selbstsüchtig- phexischen Absichten? Liegt ihr das Schicksal des verletzten don Paulo tatsächlich am Herzen oder verbirgt das vordergründig beteuerte Mitgefühl unlautere Hintergedanken? Versucht man gar gegen den ehrenwerten don von Brumahera zu intrigieren? „Euer Gemahl, der königliche Leibmedicus, gilt als ehrlicher Mann.“ murmelt Youssouf nachdenklich und meint damit: Eurer Familia hingegen traue ich nicht über den Weg. Die Autorin führt ein derartiges Gespräch nicht zum ersten Mal. Sie weiß, was in den Köpfen der von ihr Befragten vor sich zu gehen pflegt. „Und Ihr, so sagt man, kümmert Euch um die Armen der Hauptstadt...“ Des Tulamiden Gesichtszüge entspannen sich, das Ergebnis der Prüfung scheint positiv ausgefallen. „Na ja, für don Paulo... Ich kann’s ja mal probieren, vielleicht stellt sich die Erinnerung beim Erzählen ein...“

Der ehemalige Soldat lehnt sich zurück und legt die Fingerspitzen aneinander. „Damals im Krieg... war ich ein junger Spund: unreif, dämlich... und strotzend vor Ehrgeiz. Ich konnte mit einem Offizierspatent angeben. Dieses in Kombination mit rondrianisch- forschem Auftreten veranlaßte einen Bürohengst in der Hauptstadt dazu, mir die Führung dreier frisch ausgehobener Grünschnäbel anzuvertrauen... Und was für Grünschnäbel! Von Herkunft und Charakter her unterschiedlich, wie man unterschiedlicher nicht sein kann... aber alle drei viel zu jung und - offenkundig selbst für meine unerfahrenen Augen! – in jeder Armee Deres vollkommen fehl am Platze: Rico, der magere Sohn einer Schuldmagd, heulte nachts still vor sich hin, weil er die Mutter vermißte und ihn das Heimweh zerfraß. Erio, ein ehemaliger Galeerensträfling, verstand zwar vortrefflich mit dem Ruder umzugehen, erwies sich jedoch als unfähig, einem Mitmenschen auch nur einen unfreundlichen Blick zuzuwerfen... geschweige denn Schmerzen oder Verletzungen zuzufügen oder ihn gar zu BORon zu schicken! Und letztlich war da Titi, die jüngste der mir Anvertrauten, ein halbes Kind noch, die gerade einmal sechzehnjährige Tochter eines vornehmen Hofbeamten: Ihr Herz hing an Harfe und Laute, sprich: Titi fühlte sich zur Bardin berufen... ein Ansinnen, dem Vater und Mutter jedoch deutlich weniger als pures Unverständnis entgegenbrachten: nichts als Flausen im Kopf, lautete das einhellige und letztinstanzliche Familienurteil. Im Bemühen, der Tochter den rechten Weg zu weisen, hatten die Eltern beschlossen, daß Titi sich im Kriege gegen al Anfa „ihre ersten Sporen verdienen“ würde – und das ausgerechnet unter meiner inkompetenten Führung. Na ja, eine Bardin ist aus dem Mädchen denn auch tatsächlich nicht geworden.

Jedenfalls hat der Zufall in Form einer übermächtigen al anfaner Einheit meine Trotteltruppe mit Paul – don Paulo, sollte ich sagen - zusammengeführt. Don Paulo stand an der Spitze eines halben Dutzend erfahrener Veteranen: Vier Männer und zwei Frauen, allesamt hart wie Zwergenstahl, zähl wie Irianleder und flink wie die Siebenwindläufer... abgebrüht und unerbittlich, weder Tod noch Dämonen fürchtend. Damals wagte ich nicht, das Wort an diese düsteren Gestalten zu richten. Heute denke ich, jeder von ihnen hatte auf seine Art sowie aus unterschiedlichen Beweggründen bereits vor dem Sterben mit dem Leben abgeschlossen. Von Paul – don Paulo – abgesehen, sind sie denn auch alle irgendwann irgendeinem schmutzigen Hinterhalt zum Opfer gefallen und zu BORon gefahren... oder wohin auch immer. Wir und die verfluchten al Anfaner führten einen dreckigen Krieg – keine strategischen Manöver, wie sie Historiker so gerne beschreiben, keine offene Feldschlacht, nicht einmal eine Belagerung... Jedes Mittel war recht: Unumschränkt regierten auf beiden Seiten Partisanen, Fallen und Verrat.

Aus einer überaus brenzligen Lage hatten uns Pauls – don Paulos – Kämpfer herausgehauen und anschließend unter ihre Fittiche genommen - notgedrungen, denn wir waren tief hinter die feindlichen Linien versprengt worden. Al anfaner Einheiten jagten uns wie flüchtiges Wild. Paul – don Paulo, der sich keinerlei Illusionen hingab und über die prekäre Lage genauestens Bescheid wußte, sorgte für seine Truppe – und uns Anfänger - wie die sprichwörtliche Mutter ohne Brust: Unerschütterliche Zuversicht strahlte er aus, wies in dichtester Dschungelvegetation stets die Richtung, ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern, trieb die Fußlahmen an, sprach den Verzweifelnden Mut zu... und gönnte uns keine einzige Ruhepause. Wir marschierten die ganze Nacht.

Zeitgefühl war mir verlorengegangen, der Orientierungssinn gar nicht erst zum Dienst angetreten: Weder Weg noch Steg; dafür verwöhnte uns die grüne Hölle mit zahlreichen Abwechslungen... Entwurzelte Baumriesen erforderten umständliche Kletterpartien. Für Badefreuden sorgte glucksendes, von allerlei Gewürm und possierlichen Schleimwesen belebtes Sumpfwasser, das den größeren wie mir unter die Achseln reichte und den Kleinwüchsigen neckisch die Nasenlöcher kitzelte. Dann wieder boten gähnende Schluchten - deren Grund dankenswerterweise im Dunkel der Nacht verborgen blieb – reichlich Gelegenheit zu waghalsiger Lianen- Akrobatik. Die schwüle Hitze trieb den Schweiß aus sämtlichen Poren, ließ die Kleider am Leib kleben und das Atmen zur Qual werden. Durch ein unüberschaubares Gewirr aus wuchernden Pflanzen, deren Triebe einander in nachgerade obszöner Weise zäh umschlungen hielten, bahnte einzig das Hackmesser den Pfad. Wenn wir auch phexseidank nicht gezwungen wurden, mit größeren Dschungelbewohnern wie Jaguar, Ca?man oder Hornechse unliebsame Bekanntschaft zu schließen, so setzte uns doch surrendes, schwirrendes, brummendes, krabbelndes, beißendes und blutsaugendes Kleinstgetier nach Kräften zu.

Irgendwo irgendwann unterwegs veschlang Sumus Schoß die junge Titi. Aus der Tiefe ein einziger Schrei, dann kein Laut mehr. Behutsam inspizierte Paul - don Paulo - die Unglücksstelle. Er verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse und winkte mich herbei – mich, Youssouf, den verantwortlichen Vorgesetzten dreier dienstuntauglicher Rekruten. Mein ganzes Leben lang werde ich den grauenvollen Anblick nicht vergessen: Von zugespitzen Holzpfählen durchbohrt, hing die meiner Obhut Anvertraute mit offenen, aber glasig- leblosen Augen aufgespießt am Boden einer Fallgrube. Schlimmer aber noch Pauls – don Paulos – vorwurfsvoller Blick, der mich direkt ins Mark traf. Meine Unachtsamkeit hatte der Soldatin das Leben gekostet. Ganz ohne Feindeinwirkung, sondern allein infolge meines Versagens, meiner Unfähigkeit war die kleine Titi zu BORon gegangen. Rico bekam einen Schreikrampf, Erio übergab sich.

Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich dem Mädchen hinterher springen sollte - indes nur einen Augenblick lang: Dann brach sich egoistischer Überlebenswille Bahn, durchströmte meinen Leib mit Macht und weckte ungeahntes Durchhaltevermögen. Kaltherzig sagte ich mir, es sei immerhin schnell gegangen, die Kleine habe nicht lange leiden müssen... und schöpfte darüberhinaus Hoffnung für meine eigene Person: Titis Tod erschien mir als notwendiges Opfer, unschuldig vergossenes Blut gar als Garant dafür, daß es uns gelungen war, die Verfolger definitiv abzuhängen...“ Mit bitterem Lachen schüttelt Youssouf den Kopf. „Kurze Zeit später schien sich meine optimistische Ahnung zu bestätigen...

Vom bevorstehenden Aufgang des PRAios- Auges kündete bereits graue Dämmerung, als wir erst auf eine Trampelpfad stießen und dann, diesem folgend, durch Bäume hindurch einer Lichtung gewahr wurden sowie auf dieser eines eigenartigen Nebels, mehrere Hütten umwallend. Wir - das heißt: meine RONdra- vergessenen Jungs und ich – sanken einander erleichtert in die Arme und sahen uns anschließend bemüßigt, unserer jeweiligen Gottheit zu danken. Erio murmelte ein Gebet (an den Launischen gerichtet, nehme ich an) . Rico fiel auf die Knie und wollte sogleich ein Lied zu Ehren der barmherzigen PERaine anstimmen. Paul - don Paulo – aber hob warnend den Arm und im selben Augenblick wußten wir alle: Hier ist was faul... oberfaul.

In der Tat roch es brenzlig und das dumpfe Gebrüll von Menschen, die sich in Todesangst die Seele aus dem Leib schreien, drang von Ferne an unsere Ohren. Ich - versessen darauf, meinen Mut unter Beweis zu stellen, Titis Tod und mein Versagen vergessen zu machen sowie vor allem, den großen Paul – don Paulo – endlich gebührend zu beeindrucken, trat sogleich freiwillig vor, um den Aufklärer zu spielen. Von Busch zu Busch schleichend, näherte ich mich vorsichtig besagten Hütten – jener Art, die zur Unterbringung von Sklaven auf Bananenfarmen dient...“ Youssouf unterbricht den Bericht. „Macht Ihr Euch eigentlich keine Notizen, Wohlgeboren?“

„Mein Gedächtnis ist mein Notizbuch.“ erklärt die Autorin selbstbewußt. „Bitte fahrt fort.“

„Nun, gut, wenn Ihr Euch alles merken könnt... Besagte Hütten nun, die umgab nicht frühmorgendlicher Nebel, wie ich aus der Entfernung zu erkennen geglaubt hatte. Die Hütten umhüllte vielmehr dichter Qualm und außerdem standen sie lichterloh in Flammen. Und die Schreie, die drangen eindeutig aus der niederhöllisch lodernden Glut. Und dann sah ich im Rahmen eines Fensters einen schwarzen Arm und hörte, wie man um Hilfe flehte: ‚Arme Moha verbrennen! Kommen! Helfen! Erbarmen, bei Kamaluq!’ Na, wie Ihr Euch denken könnt, Wohlgeboren, das war zu viel für einen unerfahrenen Schwachkopf wie mich. ‚Mir nach!’ brüllte ich und stürzte mit heldisch erhobenem Schwert - und leider auch an der Spitze meiner beiden Hirnlosen - auf die Hütten zu. Nun - unschwer zu erraten, daß es sich um eine Falle handelte: Die Mohaha, die waren schon echt, aber sie spielten (unwissentlich natürlich) die Rolle der Lockvögel. Kaum daß wir - meine Stupidos und ich - die Deckung der Bäume verlassen hatten, prasselte ein Pfeilhagel auf uns nieder: Rico und Erio steckten sofort schwere Treffer ein. Mir drang ein Pfeil quer durch die Schulter – der Kampfarm, versteht sich – und ein weiterer durch den rechten Oberschenkel. Ich stürzte wie ein Reissack zu Boden . Dem Angriff der al Anfaner, die jetzt - brüllend wie eine Herde Elefanten und nach Blut lechzend wie ausgehungerte Schlinger - aus ihren Verstecken hervorbrachen, sah ich mich vollkommen wehrlos ausgesetzt.

Tja, um mich wäre es geschehen gewesen, damals – hätte Paul - don Paulo – seine Leute nicht in weiser Voraussicht zurückgehalten und jetzt, im entscheidenden Augenblick, taktisch klug eingesetzt. Taktisch klug, sage ich - aber das gibt den wahren Sachverhalt nur unzureichend wieder. Denn Paul - er fuhr unter die al Anfaner wie ein Säbelzahntiger unter eine Herde Selemferkel, stand als unerschütterlicher Fels in der Brandung der zahlenmäßig weit überlegenen Feinde. Wie die leibhaftig von Alveran herabgestiegene Leuin führte Paul - don Paulo - den Tuzaksäbel, der in mörderischen Kreisen wirbelte und wie ein Raubvogel blitzartig herniederfuhr - man sah Funken stieben und vermochte das todbringende Metall kaum auszumachen...

Ein al Anfaner nach den anderen biß ins Gras; die Überlebenden schließlich suchten ihr Heil in der Flucht - wie Militär- Berichterstatter da so schön auszudrücken pflegen... Don Paulos Veteranen erlitten nur leichte Verleztungen. Die beiden mir Anvertrauten – Erio und Rico - erlagen noch am selben Tage ihren Wunden und von den Mohaha konnten wir nur einen einzigen lebend aus dem Feuer bergen. Meine unerfahrene Seele hingegen verschmähte Golgari, wer mag’s ihm verdenken. So war das damals... So ist der Krieg... Und jetzt, bei allen... hat Paul sein... Augenlicht verloren... Ein Auge.“ Youssouf senkt den Kopf und schaut zur Seite – wie einer, der sich scheut, Tränen offen zu zeigen.