Libraria

Den Zwölfen zum Gruße Reisender!

Wer den Weg vom vinsalter Marktplatz zur Magierakademie kennt, wird zweifellos bestätigen, dass man en route an einem bestimmten älteren Haus vorbeikommt. Dessen Fassade - nicht heruntergekommen, aber doch kaum gepflegt - fällt indes zunächst weniger auf als der Eingangsbereich, der beidseits von sage und schreibe acht grauschwarz eingefärbten Marmorsäulen (sic!) flankiert wird ... offenbar in der Absicht, dem Zugangsweg das Gepräge einer hochherrschaftlichen Allee zu oktroyieren. Mit architektonischen Mitteln aufzutrumpfen (oder doch zumindest gewaltig Aufsehen zu erregen) - dieses Ziel verfolgte der ehemalige Besitzer, ein zwischenzeitlich verarmter Landadliger, als er sich vor Jahrzehnten anschickte, ein Stadthaus in der horasischen capitale zu beziehen. Der beauftragte Architekt wiederum erachtete offenkundig ungebremste, sämtliche Regeln des guten Geschmacks mit Füßen tretende Prachtentfaltung als Stilmittel der Wahl. HESinde sei Dank sah der Bauherr sich jedoch nach - beziehungsweise als Konsequenz - der Finanzierung des ebenso anmaßenden wie kostspieligen Eingangsbereich gezwungen, PHExischen Zwängen Tribut zu zollen (vulgo: dem Portefeuille, das einer rasch fortschreitenden Schwindsucht zum Opfer zu fallen drohte, gebührende Beachtung zu schenken) und den großmannsüchtigen Architekten zu den Dämonen zu jagen ( Unbestätigten Gerüchten zufolge soll besagter Architekt später tatsächlich an der Planung Yol Gurmaks mitgewirkt haben ). Als Glücksgriff erwies sich der Nachfolger, der - rationellen Erwägungen zugänglich - das zweistöckige Stadthaus nach funktionellen Prinzipien sowie mit vornehmer Zurückhaltung zu gestalten wusste: Der Hauptbau (der die sogenannte „libraria Vinxelles“ birgt) entbehrt daher nicht einer gewissen aristokratischen Grandeur und kontrastiert auf vorteilhafte Weise mit der hohlen Pomposität der zuführenden Säulenallee.


Hat selbige der Besucher kopfschüttelnd durchschritten, erreicht er den Eingang im engeren Sinne: Ein schweres Tor, bestehend aus zwei übermannshohen Flügeln aus dunkelbraunem Holz. Das Portal erweckt zwar keine unmittelbar feindseligen Assoziationen, vermittelt aber auf der anderen Seite auch nicht unbedingt den Eindruck, als locke man hier Fremde in Massen an oder heiße sie unkritisch willkommen: Wem Zutritt zur Bibliothek gewährt wird, diese Entscheidung behält sich der Hausherr vor. Links neben der Pforte entdeckt man nichtsdestoweniger ein Seil, das die erwartete Funktion erfüllt: Der Zug lässt eine Glocke ertönen und bald hört man rasche Schritte im Gebäudeinneren. Vermeidet man es, das Missfallen des Hausherren zu erregen (beispielsweise, indem man zu nachtschlafener Zeit vorstellig wird oder eine auf die Zugehörigkeit zur horasischen Ordnungsmacht hinweisende Uniform trägt) , so öffnet der Bibliothekar – so wollen wir ihn zunächst einmal nennen – höchstselbst.


Landläufigem Klischee zufolge hat ein Bibliothekar die Blüte seiner Jahre überschritten, trägt unter den Arm geklemmt ein Buch und unweigerlich auf der Nase ein zwergisches Augenglas, durch welches ein verunsicherter Blick auf die Umwelt fällt: verunsichert, weil der Geist von Lektüre auf Realität nicht vollständig umgeschaltet hat und unentschlossen zwischen den konkurrierenden Aspekten verharrt.


Von diese Klischees bedient jedoch Alricio Caïman kein einziges. Er präsentiert sich vielmehr als drahtiger Mitdreißiger, dessen Gang an den einer großen Raubkatze gemahnt: geschmeidig und doch kündend von geballter Kraft. Aufmerksam mustert der signore Bibliothekar (mangels einer besser zutreffenden Charakterisierung wollen wir Bezeichnung vorerst beibehalten) den Besucher, welcher - je nach Sensibilität - den Blick als scharf oder auch stechend empfinden mag. Unter den Vorfahren des dunkelhäutigen und schwarzhaarigen signor Caïman vermutet man Waldmenschen, Tulamiden und Güldenländer. Nicht nur den Namen, sondern auch die beeindruckend scharfen Zähne des Reptils scheint der Bibliothekar übernommen und aus letzteren jene Kette, die er um den Hals trägt, gefertigt zu haben - ein Anblick, der nicht unbedingt geeignet ist, beim städtisch- ziviliserten Horasier Vertrauen zu erwecken ... noch weniger übrigens das Hackmesser, das im Gürtel steckt und das man sich in der Hand des Hausherren wohl vorstellen kann. Ungeachtet des furchteinflößenden ersten Eindrucks erweist sich der signore aber als recht umgänglich, wenn er sich erst einmal dazu entschlossen hat, dem Besucher Zutritt zu gewähren. Kommt man ins Gespräch, so gesteht im Laufe der Unterhaltung der Bibliothekar ohne falsche Scham, dass er die Kunst des Lesens und Schreibens vor wenigen Jahren erst erlernt hat – notgedrungenerweise, wie er kryptisch anfügt.


Gleich nach dem Überschreiten die Türschwelle fällt der Blick des Eintretenden auf die hohen Regale, die den Bibliothekssaal ringsum säumen. Gesetzt, der Eingang definiere den Nullpunkt des kreisförmigen Raumes, so findet sich bei plus neunzig beziehungsweise minus neunzig Grad jeweils eine steil aufwärts führende Treppe. Die oberen Etagen indes wird der Besucher kaum jemals zu Gesicht bekommen. Vermutlich handelt es sich um den Wohnbereich des Bibliothekars ... der allem Anschein nach bestrebt ist, geschäftlichen und privaten Bereich sorgsam getrennt zu halten: Den Zugang zu den beiden Treppen verwehrt je eine Eisenkette, von Geländer zu Geländer quer über die Stufen gespannt. Alteingesessene Vinsalter, die seinerzeit vom vorigen Besitzer (dem bereits erwähnten Landadligen) zu den in den oberen Stockwerken gelegenen Räumlichkeiten vorgelassen wurden, wissen allerdings zu berichten, dass dort eine das PRAios- Symbol wiedergebende Glaskuppel das Zentrum der Decke ziert. Spricht man den Hausherren auf das Decken- Kunstwerk an, so bemerkt der mit spöttischem Lächeln, buntes Mosaikglas zerlege PRAios gleißende Strahlen in des Regenbogens harmonische Farben.



Dass die Regale zur Zeit nur lückenhaft mit Schriftrollen und Büchern bestückt sind, bedauert signore Caïman ausdrücklich und weist darauf hin, dass er „mit dem nächsten Schiff vom Kap“ reichlich Nachschub erwarte. Vorsorglich stellt der Bibliothekar dann fest, dass man in der „libraria Vinxelles“ auf der Suche nach aristokratisch geprägten Ritterromanen, nach romantischen Liebesgeschichten sowie nach Klatsch aus der sogennannten „besseren Gesellschaft“ unter Garantie nicht fündig werde. „Kinderkram müsst Ihr woanders suchen. Ich führe hier ernsthafte Literatur.“ Anbieten – und empfehlen - könne er dem geneigten Kunden Nachdrucke der revolutionären brabaker Zeitschrift „WaKap“ sowie der neuesten Liedersammlung des Bardenduos Bor di Lano und Rahjoman Gincastello. Zuweilen erkundigt sich an dieser Stelle ein neugieriger Zeitgenosse, wie es eigentlich mit den Rechten am Original der Nachdrucke bestellt sei – woraufhin der Bibliothekar jedes Mal mit strenger Miene antwortet, dass sowohl Zeitschriften- wie auch Liedersammlung als zum Eigentum der aventurischen Völker gehörig zu betrachten seien. „Dem Volk wird kein Recht gewährt,“ fügt signore Caïman dogmatisch an, „das Volk nimmt sich sein Recht.“